Der Klang eines unsichtbaren Glockenspiels schwebt minutenlang wie gefroren über den Köpfen im übervollen Salon des Amateurs. Die Nervosität des Publikums kondensiert an den kühlen Fensterscheiben bis plötzlich wummernder Disco-Bass und trockenes Schlagzeug-Gewitter das Eis schmelzen lassen und die Melodie nach vorne treiben. Rhythmisch. Verführerisch. Spannend. So klingt die Avantgarde. Ihr Name ist Kreidler.
Die Zugabe des Düsseldorfer Trios anlässlich der Quadriennale-Musiknacht im vergangenen November klang wie ein Versprechen auf mehr. In diesem Monat wird es mit dem Erscheinen des neuen Albums TANK eingelöst. Weniger als anderthalb Jahre liegen zwischen TANK und dem Vorgänger MOSAIK 2014, den die Fachpresse zum "besten Kreidler-Album aller Zeiten" kürte. Ein begeisterter Max Dax, damals Chefredakteur des Kulturmagazins Spex, führte den Vergleich mit Godard-Filmen wie "Alphaville" an, in denen Moderne und Science Fiction zusammenwachsen. "Der Überbau hängt uns nach", kommentiert Bandmitglied Detlef Weinrich die Last der Analogie. "Es geht einfach um die Musik. Die soll sprechen."
Mit Alex Paulick am Bass ist die Band wieder zum Quartett ergänzt, dessen Hälften verteilt auf die Städte Düsseldorf (Detlef Weinrich und Thomas Klein) und Berlin (Andreas Reihse und Alex Paulick) leben. Im Frühsommer traf man sich in der Hauptstadt und entwickelte im Festsaal Kreuzberg gemeinsam neue Stücke. "Da haben wir in drei Tagen das Album gemacht", erinnert sich Schlagzeuger Thomas Klein. "Die Entscheidung war schon so, dass man professionell aufnimmt und abmischt", ergänzt Weinrich. TANK sollte besonders gut klingen und deshalb fand man sich im Herbst mit dem neuen Material in Tobias Levins Electric Avenue Studios in Hamburg ein. Wo sonst Alben von Tocotronic oder Kante entstehen, wurden die Songs in fünf Tagen nochmals aufgenommen - fast wie bei einem Konzert in nur einem Take - und zum Abschluss in Berlin gemischt. Dennoch ist TANK kein Livealbum geworden, trägt aber das intuitive Element der Auftritte Kreidlers in sich, wie Klein bestätigt: "Manchmal stellt sich heraus, dass es den Moment einfach trifft."
Bereits das Artwork zu TANK zieht den Blick an wie ein Schwarzes Loch das Licht. Das Titelmotiv im schlichten Rahmen, eine Arbeit des befreundeten Künstlers Andro Wekua, zeigt eine Schaufensterpuppe, deren Gesicht durch Collage verfremdet wurde. Man ist verstört durch den Bruch mit der Sehgewohnheit und zugleich fasziniert. "Passt gut, finde ich", meint Detlef Weinrich. "Das hat etwas Dunkles." Man stimmt ihm gerne zu, denn auch als Hörer kann man sich dem düsteren Charme von TANK nur schwer entziehen. "New Earth" - mit einer Spielzeit von sechs Minuten und 41 Sekunden das kürzeste der sechs Stücke - zieht mit knarzigen Computerbeats und einem Klangeffekt, der entfernt an eine Mundharmonika erinnert, in seinen Bann. Das ist nur der Anfang: Klangflächen treffen auf Kleins akzentuiertes Spiel, Effekte auf Paulicks wohl portionierten Bass. Die Arrangements aus Elektronik und analogen Instrumenten bleiben stets unberechenbar und knistern vor Spannung. In "Gas Giants" und "Saal" blitzen Stimmen auf, doch der Chor besteht nur virtuell. Man merkt, dass die schwachen Spuren von Melancholie, die sich noch auf MOSAIK 2014 fanden, auf TANK vollends verwischt sind. Betont perkussiv ist TANK mitreißend und tanzbar, ohne Clubmusik sein zu wollen. Auch die Zugabe des Quadriennale-Konzerts, das abschließende "Kremlin Rules", macht da keine Ausnahme.
Dass Kreidler musikalisch ihr eigener Maßstab geblieben sind, zeigt sich besonders in der Länge der sechs Instrumentals. "Wenn man die Stücke entwickelt, gibt es eine Idealform. Dadurch manifestiert sich das", erklärt Klein. Die Band schenkt der Musik den Raum, der ihr zusteht, und gibt somit ein klares Statement gegen die aktuellen trackorientierten Formate des Pop ab.
Ein neues Zuhause hat Kreidler auf dem Hamburger Label Bureau B gefunden, das sich bislang mit liebevollen Wiederveröffentlichungen der Werke diverser Krautrockbands und ihrer Nachfolger wie Cluster oder La Düsseldorf und Elektro-Pionieren der Düsseldorfer Schule wie Wolfgang Riechmann einen Namen machte. Kreidler gehört zu den ersten zeitgenössischen Bands, die hier präsent sind. Ein passendes Umfeld, denn die Chancen, dass TANK eines Tages als zeitloser Klassiker betrachtet wird, stehen hörbar gut.
Michael Wenzel, Coolibri 03 2011